Von der Schlosserei zu Schlossgeschichten - Rainer Franz ist ein moderner Märchenerzähler

Von ddp-Korrespondentin Christiane Jacke

 

Berlin (ddp-bln). Abgehackte Räuberhände oder tödliche Tänze auf glühenden Kohlen gibt es bei Rainer Franz nicht. Auch die Zehen der ehrgeizigen Stiefschwestern von Aschenputtel bleiben in seinen Geschichten dran. "Die Gewaltszenen fliegen bei mir immer raus", sagt der 46-Jährige. Franz ist Märchenerzähler. Die Gebrüder Grimm mag er, aber die brutalen Stellen erspart er seinen kleinen Zuhörern.

An diesem Nachmittag erzählt er fast 100 Kindern im Berliner Planetarium die Geschichte von Dornröschen. Wie ein klassischer Märchenerzähler wirkt er dabei nicht: von grauem Bart, gedämpfter Stimme und bedächtiger Atmosphäre keine Spur. Statt dessen hüpft Franz in einem arabischen Gewand über die Bühne und gestikuliert wild. Nacheinander holt er Kinder aus dem Publikum aufs Podium, verkleidet sie als Prinz, Wächter und Dornröschen und lässt sie das Erzählte darstellen. Die Knirpse im Publikum johlen dazu, klatschen und fiebern mit.

"Man denkt immer, dass Kinder durch die Medienwelt vollkommen abgelenkt sind und nur noch Walt Disney kennen", sagt Franz, "aber das ist nicht so." Die meisten seiner jungen Zuhörer kennen viele Märchen auswendig. Die Klassiker Dornröschen, Rotkäppchen oder Aschenputtel seien die Renner bei den Kindern, erzählt er. Weicht Franz einmal vom bekannten Pfad ab, gehen sofort die Finger hoch und die Kleinen legen Einspruch ein. Trotzdem versucht er immer wieder, Märchen abzuwandeln und mit den Kindern ein neues Ende zu erfinden. Er lässt sie mitspielen und miterzählen. "Das fördert die Fantasie", meint er. Und die sei das Wichtigste an Märchen.

"Ein bisschen bin ich selbst in einer Märchenwelt aufgewachsen", erzählt Franz. Er wurde in einem 200-Seelen-Dorf in Brandenburg groß. Draußen spielen, durch den Wald streifen und in Figuren schlüpfen, vor nichts Angst haben müssen - das habe zu seiner Kindheit dazu gehört. "Das war die heile Welt", sagt er. Ins Märchenfach zog es ihn trotzdem nicht auf Anhieb. Erst machte er eine Ausbildung als Schlosser und anschließend als Kfz-Elektriker. Später arbeitete er jahrelang als Lkw-Fahrer - von einer Märchenwelt war er damals meilenweit entfernt.

Irgendwann reichte ihm der Job nicht mehr und er machte eine Erzieherausbildung - mit Anfang 30. "Da ging es dann richtig los mit Märchen", sagt Franz. Erst erzählte er auf Schulfreizeiten am Lagerfeuer Märchengeschichten, später auf einem Schulbauernhof, den er mit Freunden gründete. Die Kinder waren begeistert. Vor sieben Jahren marschierte Franz dann zu den Berliner Märchentagen, um in die Gruppe der Erzähler für das Festival aufgenommen zu werden. Sein Versuch glückte. Heute nennt er sich "Die Märchendrossel" und verdient Geld mit Sagen, Mythen und Legenden. Bei dem Märchenfestival ist er jedes Jahr dabei.

Erzählseminare hat der Familienvater nie besucht, aber tägliche Stimmbandübungen und Sprachtraining mit einer Logopädin gehören zu seinem Job. "Die Stimme ist wichtig", sagt er. Schrille oder piepsige Sprecher machen sich nicht gut als Märchenerzähler. Außerdem muss sich Franz vor Heiserkeit schützen, vor allem in der "Hauptsaison". Die meisten Auftritte hat er in der kalten Jahreszeit, im Sommer passiert wenig. "Allein vom Märchenerzählen zu leben, stelle ich mir deshalb sehr schwer vor", sagt Franz. Neben seiner Arbeit als "Märchendrossel" leitet einen Kinderhort, aber auch dort erzählt er Märchen und spielt Theater mit den Knirpsen.

Die kleinen Zuhörer sind Franz ohnehin am liebsten. Immer mal wieder tritt er auch vor Erwachsenen auf. "Aber das ist die absolute Herausforderung", sagt er. "Erwachsene kommen mit einer viel größeren Erwartung, und sie hören alles - jeden kleinsten Versprecher."

Einen Verfall der Märchenkultur befürchtet Franz nicht - weder bei Erwachsenen noch bei Kindern. "Märchen sind überhaupt nicht aus der Mode", sagt auch Silke Fischer, Direktorin der Berliner Märchentage. Allein das Festival ziehe jedes Jahr 100 000 Besucher an. "Märchen sind die erste Berührung mit Literatur. Wer sie als Kind hört, vergisst sie nie", sagt Fischer. "Mit ihnen kann man Türen öffnen, die mit Gewalt nicht zu öffnen sind." Außerdem seien Mythen und Sagen über alle Kulturgrenzen hinweg zu verstehen.

"Es gibt offenbar noch viele Eltern, die abends Märchen vorlesen", meint Franz. Als Kind hat er selbst davon profitiert. Vor dem Ofen habe ihm seine Oma damals immer Grimm-Märchen erzählt, sagt er, aber inklusive der brutalen Szenen. Die Hexe bei Hänsel und Gretel landete in seiner Kindheit regelmäßig im Ofen - bei lebendigem Leib, ganz schonungslos.

ddp / 05.11.2007